Der erstmalige Besucher Hanois ist anfangs mehr oder weniger komplett überfordert von Straßenstruktur und Mentalität dieser Stadt, dieses Landes. Doch irgendwann beginnen sich Konturen
zu finden. Man erkennt zentrale Straßen wieder, weil man sie immer wieder entlang kommt, egal ob auf dem Motorroller, im Taxi oder zu Fuß. Eine der großen Straßen ist die Hoàng Hoa Thám. Sie zieht sich quer durch Hanoi und wenn man mit einem Verkehrsmittel von der Altstadt in westliche Richtung will, folgt man ihr fast zwangsläufig. Immer geradeaus.
Vorbei an unzähligen Internetcafés, überall in der Stadt. Verlässt man das Gewühl der Motorroller, der Händler und Arbeitenden nach einiger Zeit, bei einem Lokal, dass uns nur als die grüne Hölle bekannt wurde, gelangt man in eine kleine Seitengasse der Hoàng Hoa Thám, in ein Viertel, weit abseits der Touristengegend. Eine Gasse mit zwei Straßenläden, einem Kindergarten, der Weg gerade frisch planiert und geteert. Zwei Hotel, eins davon zeitweise auch meine Heimat. Hier laufe ich mehrere Male an einem solchen Internetcafé vorbei, ohne dass ich es bemerkt hätte. Kein Werbeschild vor der Tür. Ein kleiner, gerade frisch orange gestrichener Vorraum, offen zur Straße, wie so vieles in Vietnam, dahinter ein nur spärlich beleuchteter, gedrängter Raum. Die Wände im dunklen Blau, nur von wenigen Lampen beschienen. Der Raum ist eher lang als breit, an den beiden Seiten stehen in Reihen die Computer. Im Hintergrund ist die Wand grau und ich erkenne eine kleine Kochnische, daneben eine Treppe, die nach oben führt.
Wie immer, wenn ich ein solches Café betrete, sucht mein Blick jemanden, der wie der Besitzer aussieht, jemanden dem ich verständigen kann, dass ich einen Computer benutzen möchte. Ich finde das freundliche Gesicht eines älteren Mannes, der mir einen Platz zuweist.
Der Mann lächelt und läuft in seinem Café umher, manchmal redet er mit einem der Kinder, die hier sitzen und spielen. Manchmal geht er in den Vorraum, schält sich eine Frucht, manchmal auch mir. Dann sitzt er wieder auf seinem Stuhl, im hinteren Teil des Raumes und betrachtet nur. Als ich fertig bin und bezahlen will, winkt er ab und lacht, deutet mit Erstaunen auf mein langes Haar. Ich versuche zu sagen: „Ich komme wieder.“ Er schüttelt den Kopf, versteht mich nicht. Ich bedanke mich noch mal da ich dieses Wort „cam on“ mittlerweile gelernt habe und gehe.
Gleich am Abend versuche ich noch unsere Übersetzerin Frau Ha für den nächsten Tag zu gewinnen, um wieder zu kommen und ihn zu verstehen. Es klappt am übernächsten Tag. Mittlerweile sind wir wieder in einem weit entfernten Hotel untergebracht. Ein Taxi bringt uns durch die vollen Hanoier Straßen. Wieder in dieser Seitengasse brauche ich eine Weile, um das Café zu finden. Dann endlich habe ich es und aus dem Halbdunkel schaut mich schon wieder das lächelnde Gesicht dieses Mannes an. Ich lächele zurück und wir treten ein. Die Computer sind um diese Zeit fast alle leer, auf den Stühlen sitzt ein anderer Mann und eine junge Frau. Wir setzen uns dazwischen und Frau Ha beginnt, mich vorzustellen und zu fragen, ob wir einige Fragen stellen können. Er, Nguyen Van, Nhoi willigt ein und wir sitzen eine Stunde in diesem Kreis. Seine Tochter, Van Anh, geht oft in den Vorraum, um kleine Mengen Farbe an die frisch gestrichene Wand aufzutragen, ich wechsle einige Worte Französisch mit ihr, weil sie diese Sprache lernt, um irgendwann bei ihren zwei Tanten in Frankreich leben zu können. Sein Freund aus Kriegszeiten schaut uns interessiert an und trinkt sein Bier, Bia Ha Noi. Der 62jährige Nhoi erzählt, während eines der Kinder das Computerspiel „Age of Empires“ startet, dass er ein geborener Hanoier ist, doch mit seiner Familie im Zuge der politischen Umwälzungen immer wieder aufs Land gezogen ist. Die Familie kommt aus der westlich von Hanoi gelegenen Ha Tay Region und der Beruf des Schneiders ist für die Männer Tradition. Auch Nhoi übte ihn bis 2003 noch zeitweise aus. Lange arbeitete er auch mit seinem Freund in einer Autowerkstatt. Vietnam, das Land der Gegensätze.
Kommt man nach Vietnam, so erlebt man oft, dass der bei uns so populäre Vietnamkrieg hier kaum wiedergegeben wird. In diesem Café musste ich nicht einmal die Frage nach seinen Kriegserlebnissen stellen, er erzählt von selbst. Als junger Mann war er Fahrer und kennt den Ho-Chi-Minh-Pfad seit damals wie die Westentasche seines cremefarbenen Polohemds. Sein Blick zieht in die Ferne, wenn er lächelnd erzählt: „Was wir damals alles gemacht haben...Aber als junger Mann denkt man nur: Alles für das Volk.“ Verletzt wurde er nicht, allerdings krampft sein Magen seit jener Zeit, weshalb er schließlich ab 1982 Invalidenrente bekommen sollte. Er erhielt sie nur ein einziges Mal und musste danach selbst sehen, wie er seine Familie ernährte. Bis 2003 war er im Familiengeschäft als Schneider tätig, als sein Sohn auf die Idee kam, das Erdgeschoss ihres Hauses zu einem Internetcafé umzubauen. Der Informatiker kaufte die Computer, richtete alles ein und gab es zur Betreuung an Nhoi. Eine ungewöhnliche Altersversorgung. Doch ihn scheint das nicht zu stören. Wenig eitel erzählt er von seinem gefärbten Haaren und lange ruhen die Augen auf seiner Tochter. Er ist stolz auf seine Kinder. Auf das was sie erreicht haben und wahrscheinlich auch auf sich, weil er sie unterstützen konnte.
Ich erinnere mich an meinen letzten Besuch, als auf den Monitoren noch Kriegsspiele flackerten und frage Nhoi, wie er zu Computerspielen steht. „Ich finde das sehr, sehr gut. Die Kinder müssen aktiv und flexibel sein. Das lernen sie in diesen Spielen.“ Als er das sagt, spielt eines der Kinder gerade ein Tanzspiel, bei dem man in kurzer Zeit verschiedene Tasten drücken muss, um eine Bewegung auszuführen. Das Kind drückt die Tasten nicht, es hämmert. Auf dem Monitor sieht man nur die Anweisungen vorbeifliegen, immer wieder unterbrochen durch ein „Great“ oder „Incredible“. Auf die Kriegsspiele geht er nicht ein und auf meine Nachfrage hin, gibt es solche Spiele auch nicht auf diesen Computern. Mir fällt mein Großvater ein, wie er einmal an Weihnachten mein Zimmer verlassen hat, weil ich eine Flugsimulation im Zweiten Weltkrieg gespielt habe und hake hier nicht weiter nach. Man braucht die Rechtfertigung für das was man tut, auch wenn sie nur durch Verleumdung entsteht. Im Großen, wie im Kleinen.
Wir verlassen das schwierige Thema, denn Nhoi ist aufgestanden und holt Sachen aus der oberen Wohnung. Er muss gehen. Seine Einladung zum Tet-Fest muss ich ausschlagen, denn am nächsten Abend fliege ich schon wieder nach Deutschland. Er erzählt noch, dass er auch an Tet geöffnet hat. Für die Kinder. Ich mache noch schnell ein paar Bilder, dann verabschieden wird uns. Er geht hinaus, schwingt sich auf seinen Roller und fährt in Richtung Hauptstraße. Scheinbar unberührt von all den Veränderungen und Umbrüchen von denen sein Leben geprägt war. Oder nur verborgen hinter seinem Lächeln.