Doi Moi und Thüringer Würstchen
13.02.2007

Vietnams Wirtschaftsboom und sozialistische Marktwirtschaft

Ein Land befindet sich in Aufbruchstimmung. Nicht nur die Vorbereitungen zum bevorstehenden Frühlingsfest laufen auf Hochtouren.Die sozialistische Republik Vietnam erwacht aus seiner jahrelangen wirtschaftlichen Tristesse und blüht marktwirtschaftlichen Zeiten entgegen.
Vietnam, ehemalige französische Kolonie und US-amerikanisches Trauma rückt wieder stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Vor einigen Jahren galt das Land in Südostasien noch als Geheimtipp für Rucksacktouristen. In letzter Zeit wird verstärkt über den boomenden Tourismus, einsame Strände und das den Wirtschaftsschwung berichtet. Selbst Vietnamesen, die seit vielen Jahren in Deutschland leben, sind vom Aufschwung überrascht.

Die langen Jahre des Krieges hatten Vietnam ausgeblutet. Als Mitglied im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) erhielt das Land die Unterstützung seiner sozialistischen Bruderländer, während die USA ein Wirtschaftsembargo verhängten, welches auch den IWF, die Weltbank und anderen Organisationen daran hinderte, Vietnam Aufbaukredite zu geben. Das Land galt eines der ärmsten der Welt; Mitte der 1980er Jahre hatte die Inflationsrate 700 Prozent erreicht.

In den Jahren von Glasnost und Perestroika schlug eine junge, reformorientierte Generation einen eigenen Gang in der sozialistischen Fahrweise ein. Insbesondere seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion treibt Vietnam sein Reformprogramm „Doi Moi“ intensiv voran. Die zentrale Planung wurde aufgegeben, die Kollektivierung der Landwirtschaft schrittweise abgeschafft und marktwirtschaftliche Reformen durchgeführt. Ausländischen Investoren wurde – in Jointventures – erlaubt, im Land zu investieren. Nachdem Vietnam Anfang der 1990er Jahre aus der internationalen Isolation herausfand und die Vereinigten Staaten ihr Wirtschaftsembargo aufhoben, stieg das jährliche Wachstum zeitweise über 10%. Mit der Aufnahme in die WTO im Januar 2007 eröffnen sich der Wirtschaft weitere Entwicklungsmöglichkeiten. Für das kommende Jahr wird eine weitere Beschleunigung des Wirtschaftswachstums prognostiziert; der reale Anstieg des Bruttoinlandsproduktes 8,5% betragen.

Um die beiden Metropolen Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt ist der Boom am deutlichsten zu spüren, wobei das ehemalige Saigon der treibende Motor im Wirtschaftswunderland ist. Doch wie steht es um die blühenden Landschaften am südchinesischen Meer? Arbeit für alle und Partizipation am wachsenden Wohlstand? Vietnams sozialistische Regierung versucht einen Spagat, der von ausländischen, besonders westlichen Beobachtern argwöhnisch und kritisch verfolgt wird und der auf dem chinesischen Weg zur klaffenden Schere geworden ist. Mit asiatischem Pragmatismus, Fleiß und Disziplin, die typisch sind für Vietnamesen, versuchen die Menschen ihren eigenen Weg zwischen sozialistischem Führungsanspruch und internationalen Handelsbeziehungen. In den letzten Jahren wurde die Alphabetisierungsrate landesweit auf 93% angehoben. Die Armutsrate liegt bei 29%. Zum Vergleich liegt die Zahl der Analphabeten in Deutschland bei etwa 6% und die Armutsrate bei etwa 17,3%.

Mit dem Aufschwung ziehen auch neue Probleme in Vietnam ein. Der Reichtum zwischen den Städten und ländlichen, bereits schon benachteiligten, Gebieten ist ungleich verteilt. Um der befürchteten Abwanderung in die jetzt schon stark besiedelten Ballungsräume entgegenzuwirken, konzentriert Vietnam seit etwa 15 Jahren seine Investitionen auch in die Entwicklung ländlicher Gebiete. Chinesische Verhältnisse konnten so bisher vermieden werden. Auch wenn die Lebensverhältnisse in den Vororten Hanois nicht mit denen europäischer Metropolen zu vergleichen sind. Slums wie in Jakarta oder dem brasilianischen Sao Paulo sucht man vergebens. Asiatische Lebensweise lässt sich nicht in westlichen Standart pressen und wo das passiert, wirkt es befremdlich.

Meterhohe Werbeträger säumen die Straßen nach Hanoi. In den engen Gassen der Hauptstadt preisen Straßenhändler ihre Waren an. Zwischen der Pho Hang Dau Straße und dem Hoan Kiem See verkaufen die Bäuerinnen frisch geschnittene Ananas mit Pepperoni gewürzt, möglicher Durchfall inklusive. Im Vorbeigehen werden kunstvolle Blumenvasen, frisch geschlachtete Hühner und Postkarten angeboten. Das Kontrastprogramm läuft parallel ab. Coca-Cola und Marlborowerbung laden neben Propagandaplakaten und roten Fahnen zum Konsumrausch ein. Gucci und Panasonic glänzen in den Auslagen. Mobiltelefone und Internetcafes bieten internationalen Kommunikationsanschluss. Das Konsumverhalten der Bevölkerung hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert.

„Markt und Wirtschaft sind ein Produkt menschlicher Entwicklung“, reflektiert Doan Van Thai den Auftritt Vietnams auf der globalen Wirtschaft- und Politikbühne. Der Funktionär der Jugendorganisation „Ho Chi Minh“ gehört zu den Reformern, die keinen Widerspruch zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft sehen. Thai, eher Manager als politischer Hardliner, sieht im WTO-Beitritt Vietnams nicht nur Vorteile für eine kleine Elite, sondern reale Chancen für die Mehrheit der Bevölkerung. Der 45jährige zeichnet ein Bild eines „real existierenden“ Sozialismus, welches auf westliche Besucher irritierend wirkt, schienen doch die Theorien von Marx und Lenin nicht in die Praxis umsetzbar. Doch die positiven Auswirkungen von Doi-Moi, der „Erneuerung“, legitimieren das Einparteiensystem der sozialistischen Republik Südostasiens für die Mehrheit der Bevölkerung.

Deutschland stellt mit 29% am vietnamesischen Handel innerhalb der Europäischen Union den größten Handelspartner Vietnams. Aufgrund der engen Kooperation zwischen den Ländern des RGW besteht eine traditionell vielseitige Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern, insbesondere Ostdeutschland. In den letzten Jahren kam es immer wieder zu politischen Gesten und gegenseitigen Besuchen hochrangiger Politiker. Die wichtigsten Exportgüter aus Vietnam nach Deutschland sind Schuhe, Textilien und Bekleidung, Fischerprodukte und Keramikwaren. Das Land gilt als drittgrößter Kaffeeexporteur der Welt: die Plantagen wurden mit Unterstützung der DDR angelegt. Hauptimportgüter aus Deutschland sind pharmazeutische Produkte und Maschinen. Noch heute prägen zahlreiche LKW W50 aus volkseigener DDR-Produktion das Erscheinungsbild vietnamesischer Landstraßen.

Die Duc-Viet Jointventure GmbH ist ein blühendes Beispiel deutsch-vietnamesischer Kooperationen. Die Wurstfabrik, eine Busstunde vor den Toren Hanois in der Provinz Hung Yen, ist der Stolz von Dr. Mai Huy Tan. „Der Anteil Thüringer Würstchen beträgt inzwischen nur noch ein Drittel unserer Produkte“, erklärt der Generaldirektor in klarem Deutsch. Inzwischen erweitern Sülze und Rotwurst die Produktpalette, zu der auch hauseigener Senf gehört. Der energische Tan erzählt von seinen Jahren in der DDR. Das erste Würstchen hatte er auf dem Berliner Ostbahnhof Würstchen gegessen. In den 1990er Jahren entwickelte Tan mit einem Erfurter Freund die Idee, im boomenden Vietnam eine Würstchenfabrik in europäischem Standart aufzubauen. Wie viel Basisarbeit notwendig war, um die Menschen von den neuartigen Produkten, fern von Hühnchen und leichter asiatischer Kost, zu überzeugen. „Am einfachsten ist es, wenn man die Kinder gewinnen kann. Die überzeugen dann auch ihre Eltern.“ verrät Tan eines seiner Marketinggeheimnisse.

Doch die Pläne des Managers sind weitreichend. Selbstbewusst beschreibt er die neue Schweinemastanlage mit angeschlossenem Biokraftwerk. Vietnamesen sind in erster Linie Pragmatiker. Die derzeitigen Versorgungslage Vietnams reicht nicht mehr aus, um das rapide steigende Wirtschaftswachstum kontinuierlich zu bedienen. So wird einmal in der Woche der Strom bis auf einige Aggregate abgeschaltet, keine Schweinehälften zerteilt und Würstchen geräuchert. Generaldirektor Tan möchte, die Olympischen Spiele in China 2008 faktisch vor der eigenen Haustür, seine Würstchen exportieren. Deutscher Anspruch ist ihm da gerade gut genug. Die Zertifizierungsurkunde der TÜV Rheinland Gruppe für „die Herstellung von deutschen Würstchen, geräucherten Schweinefilets, Schweinelendchen, Speck und traditionellen Fleischrollen“ hängt in der Empfangshalle des 2001 errichteten Fabrikgebäudes. „Noch haben wir mit den Bau unserer Anlage nicht begonnen. Es wird eine Weile dauern, um die Gebäude für 10.000 Schweine zu erreichten. Doch spätestens Ende 2008 möchten wir fertig sein.“ definiert Mai Huy Tan vietnamesische Geschwindigkeit.

Im Jahre 2010 feiert Hanoi sein 1000jähriges Bestehen. Dagegen wirken 75Jahre Kommunistische Partei, deren Geburtstag 2005 gefeiert wurde und 25Jahre Erneuerung wie ein müder Wimpernschlag. Dem kleinen südostasiatischen Tiger ist zu wünschen, dass es in den bevorstehenden Frühjahrsstürmen seine Interessen weiterhin vertreten kann und sich Doan Van Thais Hoffnungen erfüllen.


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