Ich packe meinen Koffer...
28.02.2007

Ich gehe auf Vietnamreise, packe meinen Koffer und nehme mit…
… eine Hand voll bester Klischees.
Reishut, Wasserbüffel, Nudelsuppe und vor allem: viel Partei. Rot. Kommunismus – wohin man nur schaut.
Denn wo ist es in unserer sorgfältig vorgeprägten, medial eingemauerten Wahrnehmung noch anders?
Was sonst wird aus China gezeigt, als große Parteikongresse mit stehenden Ovationen für den Vorsitzenden? Welche Bilder bleiben uns neben Fidels unglücklichem Sturz und ansonsten vereintem Rauchen einer guten Zigarre im Kreis der Eingeschworenen?
Und der mit Halbwissen gut versorgte Fernsehzuschauer mag sich im Anschluss an diese Fragen gleich noch den Kopf zerbrechen über dieses Nordkorea… Was war das gleich noch mal? Auch kommunistisch? Egal, auf jeden Fall ne’ Diktatur!
Was ist nun was? Wo fängt Diktatur an und wo hört Kommunismus auf? Was ist eigentlich Demokratie und wer hat’s erfunden? Die Schweizer?? Schon wieder??? Wer darf bestimmen, wer darf das Recht des Definierens für sich in Anspruch nehmen?
Und woher soll ich das wissen?
Ich gehe auf Vietnamreise, packe meinen Koffer aus und überprüfe:
Reishut sitzt; Wasserbüffel liegen am Straßenrand oder ziehen auf den Feldern Pflüge; Nudelsuppe dampft im Koriandergeruch, gut gewürzt mit Chilipaste macht sie jedem Hals und Nase frei.
Viel Partei: Plakate begrüßen den Frühling und im selben Atemzug die KP, patriotische Banner strotzen vor Planvorerfüllung und Wachstumsraten im mehrstelligen Bereich. Junge Ingenieure, gutgelaunte Schulkinder in blauweißer Uniform und blumenbekränzte Mädchen in 2-D lächeln der strahlenden Sonne und einer glänzenden Zukunft entgegen. Ho Chi Minh auf Postkarten, Gedenktellern, im Mausoleum, auf Digitalkalendern, im Fernsehen und in jedem Haus.
Kommunismus im Verbändewesen – ob nun Jugendverband oder Gewerkschaften, das Schlagwort Nummer 1 hat stets einen Ehrenplatz in den Namen der Organisationen; bei unseren stets förmlich gehaltenen Delegationsterminen, die wir gerne etwas aufgelockerter gehabt hätten, begrüßen wir Komitee-Vorsitzende, Stellvertretende Sekretäre des Ausschusses X des Verbands Y, nur fällt auf, dass das so heiß begehrte Wort „Genosse“ gar nicht so oft kommt, wie erwartet; man übt sich eher in Sympathiebekundungen und spricht immer von „unseren“ oder „den Freunden“.
Straff durchorganisiert und perfekt hierarchisch kontrolliert scheint alles zu sein, das merkt man nicht zuletzt an dem eigens für „unsere Sicherheit“ abgestellten Personal vom Informationsministerium – obwohl die jungen Damen bei verschiedenen Terminen doch lieber SMS schreiben oder man(n) auch mal beim Termin im örtlichen Sangha den Kopf demonstrativ auf die Tischplatte legt und schläft.
Man lässt uns sicherlich trotzdem nur die Spitze des Eisberges erahnen – hier funktioniert die Sozialistische Republik Vietnam noch. So viel zum offiziellen Part.
Wie sieht es auf der Straße aus? Was macht der Durchschnittsvietnamese den ganzen Tag? Das kommunistische Manifest auswendig lernen? Die Zeitungen nach neuesten Berichten aus dem Politbüro absuchen? Sich stundenlang über frisch gedruckte Erlasse freuen und diese gleich mal in der Straße mit dem Nachbarn diskutieren? Das kommt auch vor, keine Frage; es scheint aber nicht die Norm zu sein.
Den Vietnamesen geht anderes durch den Kopf.
Auf dem Land, wo immer noch 75 bis 80% der Bevölkerung lebt, stellt man sich die Fragen, wie man durch den nächsten Tag kommt; was man macht, wenn der nächste Ernteertrag nicht die ausreichende Qualität hat um beim Großhändler Absatz zu finden; wie man der Abwanderung junger, dynamischer Arbeiter begegnen soll, die lieber in den Städten ihr Glück und bessere Ausbildungschancen suchen, was man macht, wenn man alt und bei Krankheit zu schwach ist um das nächste, entfernt gelegene Krankenhaus zu erreichen…
Leider sehen wir dieses vietnamesische Leben nur schlaglichtartig beleuchtet, und auch das kurze Halten in einer Straßensiedlung und das Fotografieren aus dem Busfenster während unserer „Überlandfahrt“ können das nicht ändern. Das richtige Dorfleben lernt man als „Westler“ auch nicht ohne persönliche Bekanntschaften und Verbindungen, die bis in die Dorfverwandtschaft reichen, kennen. Der abwehrende Bambuswall, der früher die in sich abgeschlossene und stark nach außen abgegrenzte Dorfeinheit geschützt hat, mag heute in vielen kleinen Siedlungen nicht mehr existieren, schon aus Gründen der Praktikabilität. Die enge Gemeinschaft der Bewohner allerdings scheint trotz des zunehmenden Abwanderns von Jugendlichen und der verstärkten Konzentration auf die eigene Familie noch einigermaßen intakt zu sein. Die Entwicklung dieses sozialen Geflechts allein ist eine mehrjährige Studie wert – und wir hatten nur zwei Wochen um die Großstadt kennen zu lernen!
Dort sieht das tägliche Leben natürlich etwas anders aus. Die vielen kleineren Straßenverkäufer (größtenteils Frauen), die sich meist ohne Genehmigung - also immer mit der Gefahr im Nacken – bemühen den Unterhalt ihrer Familie aufzubessern, oder ihn sogar selbst zu bestreiten, sorgen sich um ihren täglichen Absatz; den Kleinkrieg mit der harten, vielzähligen Konkurrenz auf der Straße; die kranke Großmutter zu Hause, deren teure ausländische Medikamente das Haushaltsbudget sprengen; den sich herumtreibenden Sohn, der vielleicht in die stetig wachsende Heroinszene abrutscht; die Tochter, die vielleicht in einer der unzähligen „Pensionen“ jenseits der Brücke über den Roten Fluss anders Geld verdient, als sich ihre Mutter gewünscht hätte; den Mann, der zu viel trinkt und vielleicht eine Geliebte hat. So konzentriert, wie geschildert, kommt es sicher nicht in jeder Familie vor, aber auch wenn nur ein Teil davon zutrifft, so erzählt man dies normalerweise nicht einem wildfremden „Westler“ mit einer teuren Kamera und einem seltsam aussehenden Aufnahmegerät.
Dazu braucht es Zeit – die wir nicht hatten.
Es bedarf schon mutiger Vietnamesen, die sich gerne öffnen und über sich mehr erzählen, als dass der Kleine auf ihrem Arm der Neffe sei. Und wenn sie mehr erzählen wollen, kommt die Sprachbarriere hinzu, die man auch nicht so einfach mit Händen und Füßen überwinden kann.
Doch zurück zur Stadt: Es geht hier natürlich nicht nur um die Menschen, die Hanois Straßen zu dem machen, was sie sind: ein lebendiges Wohnzimmer mit Küchenzeile, jeder Menge alltäglicher Dramatik, Lärm und Schmutz (gegen den sich die Stadtverwaltung mit aller Kraft und täglich mehrfachen Reinigungskolonnen zu wehren versucht).
Schüler in Uniformen und deren Eltern verstopfen jeden Tag wieder nach dem Unterrichtsschluss die Straßen und machen ein Durchkommen unmöglich. Anschließend machen sie es einem nach Kontakt zur Heimatwelt hungrigen „Westler“ manches Mal unmöglich einen Platz in einem der Internet-Cafés zu finden, weil erst mal eine Runde Internetspiele in unglaublicher Fingerfertigkeit und Misshandlung der Tastatur gezockt wird.
Junge Leute in Hanoi fallen dem nach traditioneller Kleidung lechzenden Beobachter durch ihre Anpassung an neueste „Trends“ (vermeintlich) aus Nordamerika, Europa und Australien auf. Konsumgüter aller Art tummeln sich in den engen Gassen der Altstadt (mit Touri-Zuschlag, versteht sich) und auf den breiteren, doch nicht minder belebten Durchgangsstraßen in den weniger touristisch überfluteten Gebieten der Stadt. Dass viele der Trends unter den Jugendlichen momentan den großen Favoriten Süd-Korea, Taiwan und Japan folgen, ist bei uns weniger bekannt.
Ein Moped zu besitzen ist bei vielen Jugendlichen der größte Wunsch und auch das Ziel, worauf es sich hinzuarbeiten lohnt. Sieht man ab 20 Uhr abends in die Straßen, weiß man auch, warum. Es gibt nichts Schöneres für junge Leute, als in den lauwarmen Nächten in Kolonne durch die Straßen zu düsen, ein wenig chè (süße, verschieden eingelegte Bohnen), kem xôi (Eis mit grünem Klebreis) oder das als populär gewordener Insider-Tipp gehandelte Eis in der Trang Tien Straße zu genießen und sich schwatzend und illegaler Weise auf großen Plätzen parkend zu treffen und den Abend zu genießen, bis die Polizei kommt und wieder für Ordnung sorgt.
Überhaupt scheint Vietnam momentan im Griff des Konsumrauschs gefangen zu sein. Wo man hinsieht, erschlagen einen überdimensionale Werbeplakate, alles quietscht vor Farben, Plastik ist der Stoff der Stunde…
Wo früher solide Korbstühle und –bänke in den Garküchen dem auch etwas korpulenteren Touristen einen Sitzplatz mit Stehvermögen boten, regieren heute Stühle und Bänke aus Plastik, die man in Deutschland so nur aus den Warteräumen von Kinderärzten kennt. Außerdem muss alles, aber auch alles in eine Plastiktüte eingepackt werden. Und wenn man viele kleinere Teile kauft, werden die – einzeln verpackt – noch in einen ordentlichen Beutel von stattlicher Größe verstaut. Umweltbewusstsein ist noch ein großes Problem, aber dafür ist kaum Raum in der rasanten Entwicklung, die Vietnam im Moment nicht nur im Konsumbereich durchmacht.
Der Bau boomt.
Vergleicht man sein altbekanntes Hanoi vor einem Jahr mit dem Heutigen, so wird man sich an einigen Ecken kaum mehr zurechtfinden. Kreuzungen mit der Größe eines Fußballfeldes entstehen an wichtigen innerstädtischen Verkehrsknotenpunkten, Straßen werden instand gesetzt, um dem wachsenden Verkehrsdruck gerecht zu werden. Aus dem Nichts schnellen neue Wohnblöcke, Bürotürme und Einkaufscenter in die Höhe, in der Anzahl der Kräne kann Hanoi sicher mit Berlin mithalten. Und neuer Wohnraum ist dringend erforderlich, nicht nur wegen der zunehmenden Landflucht, auch Saisonarbeiter strömen regelmäßig nach der Ernte in die großen Städte um ihr Einkommen aufzubessern.
Hanoi verspricht viel - vor allem die Möglichkeit auf eine gute, karriereorientierte Ausbildung ist unter Jugendlichen ein wahrer Magnet. Und sie verspricht einen guten Arbeitsplatz mit ordentlichem Gehaltscheck, mit dem man sich den einen oder anderen Traum erfüllen kann.

All das lässt nicht wirklich viel Platz für Kommunismus und Partei in den Köpfen der Bewohner.
Warum sollte ein Apparat, der so schwammig, so unnahbar und weit entfernt wirkt, das alltägliche Leben eines Menschen dominieren, der genug andere Probleme, aber auch genug andere Interessen auf sich vereint?
Auch die Strahlkraft der Nachwuchsarbeit ist eingeschränkt. Nur ein geringer Teil der Jugendlichen findet es spannend, sich mit dem Jugendverband am symbolischen Einpflanzen von Bäumen oder in Gesangswettbewerben zum 75. Geburtstag des Kommunistischen Jugendverbandes Ho Chi Minh zu engagieren. Neueste Modetrends, Klingeltöne auf dem Handy, BRAVO-Kultur in den Zeitschriften und bei MTV Asia sind für viele junge Leute weitaus attraktiver. Natürlich gibt es ehrlich an der Politik interessierte Menschen, auch junge. Doch dominieren diese einfach nicht, wie vielleicht von einigen gewünscht, das Bild.
Dass Vietnam kein rein kommunistisches Staatssystem besitzt, zeigt sich schon durch den scheinbar unverkrampften Umgang mit der Marktwirtschaft, die seit den 80ern anerkannt und eingeführt ist.
In einer größtenteils apolitischen Bevölkerung, die die Verbesserung ihres Lebensstandards, Bildung und Konsum fordert, reagiert die Kommunistische Partei bisher einfach, indem sie lernt; lernt und auf die Bedürfnisse der Vietnamesen eingeht und sich so in deren Augen legitimiert.
So lang die Bevölkerung zufrieden ist, hat sie keinen Grund etwas gegen das sie regierende Regime einzuwenden. Mit zunehmenden Bedürfnissen wird jedoch auch die KP flexibler in ihren Zugeständnissen an die Vietnamesen werden müssen, was vielleicht die langsame, aber stetig weiter wachsende Öffnung des Landes mehr und mehr vorantreibt. Das kann nicht von heute auf morgen geschehen und wäre in einem so raschen Tempo vielleicht auch gar nicht so einfach zu verkraften – nicht nur in der Politik, sondern auch im normalen Alltag. Vietnam braucht Zeit in verschiedensten Feldern zu wachsen und sich weiter zu entwickeln. Der Druck von außen ist dabei enorm und macht eine sanfte Veränderung sehr schwer. Vor allem westliche Vorstellungen davon, was sein sollte und was nicht ist, legen dem Steine in den Weg.
Vietnam tritt eine Reise an, packt seinen Koffer und…

Wohin die Reise geht, sollten letztendlich nur die Vietnamesen selbst entscheiden.


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