Journalismus im West-Ostkontext
23.03.2007

***Spiegelbilder reflektiert***




>>>UNSERE JOURNALISTSCIHE RESIGRUPPE STEHT MIT DEM REPORTAGEPROJEKT ‚VIETNAM’ VOR EINER BESONDEREN HERAUSFORDERUNG: JOURNALISMUS IM NORD-SÜDKONTEXT( BZW: WEST-OSTKONTEXT). DENN DER WESTLICHE JOURNALISMUS BRINGT EIGENE PERSPEKTIVEN UND EINE VORSTELLUNG VOM ‚FERNEN OSTEN’ MIT.DIE AUFFASSUNG VOM WESTEN UND SEINEM GEGENSTÜCK-DEM NICHT-WESTEN- IST UNSERE PERSPEKTIVE; UNSERE MEßLATTE; UNSER FOKUS: MIT DIESEM FOKUS ZOOMEN WIR IN DIE VIETNAMESISCHE GESELLSCHAFT: AUSGEBLENDET IST DAS, WAS WIR IM GEPÄCK HABEN; UND DAS IST WEIT MEHR ALS NUR KAMERAS, EINEN KUGELSCHREIBER UND EINEN BLOCK: OFT UNSICHTBAR BLEIBT DAS, WAS MEHR IST ALS NUR EINE BLO?E IDEE VOM WESTEN; VON EUROPA: HOCH ENTWICKELT? MODERN?





>>>VON MODERNITÄT UND ENTWICKLUNG
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Ankunft. Flughafen. Die Reise war lang- 30 Stunden Zeit für Bilder- Vorstellungen- Erwartungen. „Vietnam ist ein Land in Bewegung“ steht auf unserer Broschüre. Eine beliebte Umschreibung, nicht nur bei uns. Ausdrücken soll es, wie ‚beeindruckend rasant’ sich Vietnam ‚entwickelt’: der Erneuerungsprozess ‚doi moi’, das sind die Reformprogramme, die Liberalisierung der Märkte und die boomende Marktswirtschaft, die internationale Öffnung, der Beitritt zum Verbund der Tigerstaaten. Vietnam ‚entwickelt’ sich, wird ‚moderner’, nimmt Abschied vom ‚trägen’ System des Kommunismus und hat als Blickpunkt die Demokratie- Ein Demokratisierungsprozess. Ein Erneuerungsprozess. Eine Modernisierung. Das ist ‚doi moi’, das magische Wort, von dem sich viele Vieles versprechen.


Doch was ist eigentlich modern, was ist das Neue, das es zu entwickeln gilt- was ist d a s Entwickelte. Wenn im Westen von den Ländern des Südens und Ostens gesprochen wird, dann ist oft von ‚Entwicklungsländern’. und Schwellenländern’ die Rede. Vietnam sagt ‚doi moi’- Erneuerung; ist es das, was ein ‚Entwicklungsland’ angehen muss um sich zu entwickeln? Was bedeutet eigentlich Entwicklungsland und wohin entwickelt es sich überhaupt?





>>>VON BEGRIFFSBESTIMMUNGERN; STUFEN-DENKEN UN DER ‚TREPPE IM KOPF’
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Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) erklärt, dass es zwar gemeinsame Merkmale für Entwicklungsländer gibt, aber keine einheitliche Begriffsbestimmung. Was das BMZ nicht erwähnt, ist die Kritik am Begriff Entwicklungsland, auch nicht warum das BMZ selbst lieber kommentarlos von ‚Partnerländern’ spricht.


Das Wort ‚Entwicklung’ ist deshalb problematisch und berechtigterweise umstritten, da es die Vorstellung transportiert, eine Gesellschaft würde sich in verschiedenen Stufen entwickeln. Vom unterentwickelten, rückständigen Land aus also, dem jede Entwicklung abgeht, ein rohes Land, das noch ungeformt ist und geringere oder gar keine eigenen Potenziale aufweist. Dann wird es graduell immer moderner, bis es eine bestimmte Schwelle erreicht hat. Dann ist es ein so genanntes ‚Schwellenland’. Es übertritt mit diesem Status die Grenzmarke hin zu einer ‚mo-dernen Industrienation’, wie es die alten Kolonialmächte Europas sind- der Westen- der Clou der Entwicklung, der im Entwicklungsstufenmodell ganz oben steht und als zu erreichendes Ziel der menschlichen und sozialen Entfaltung platziert wird.


Damit erhöhen sich die Industrienationen im Westen selbst. Diese Vorstellungen von Modernität und Entwicklung wird zu einem geteilten und legitimen Wissen- es wird zu einer großen und mächtigen Erzählung, die Wahrheit für sich beanspruchen kann. Das eingebaute Schritt- und Stufendenken wird zu einer Treppe im Kopf.





>>>DIE IDEE ‚ WESTEN UND DER REST’
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Wenn von Vietnam gesprochen wird, wird gerne der Widerstreit zwischen Tradition und Moderne oder zwischen sozialistischer Gesellschaftsordnung und kapitalistischer Marktwirtschaft erwähnt. Attraktiv wird dieser Kontrast deshalb, weil es eine geteilte und legitime Vorstellung ist, das Traditionen oder kulturelle Eigenheiten bestünden, die das Gegenstück zur Moderne darstellten- zur westlichen Moderne.


Traditionen suchen wir in den Ländern des Südens und Ostens- vor allem der ‚Orient’ und der ‚Ferne Osten’ dienen dabei als Projektionsflächen, die den Gegenpart zur westlichen Modernität einnehmen. Orientalismus nennt der Kulturwissenschaftler Edward Said kritisch dieses Repräsentationssystem. Das ist ein Denken in Kontrasten- in Dichotomien, zweigeteilt- gespalten, parallel- hinter denen eine gefährliche Basis lauert: Die Gefahr der Essentialisierung. Sie suggeriert, es gäbe so etwas wie eine Essenz, einen Extrakt, einen unumstößlichen Kern, der die vietnamesische Gesellschaft oder die Modernität an und für sich ausmachen würde. Das aber soziale und politische Ordnungen in Bewegung sind; dynamische, veränderbare Gebilde, die nicht starr zu denken sind, bleibt außen vor.


Es geht also nicht nur um eine Treppe im Kopf, sondern auch um Zweiteilung -ein gespaltenes Denkmuster, voller Klüfte – Abgründe - Furchen- ohne Flexibilität und ohne Liebe zum Detail. Zusammen mit der Treppe im Kopf wird es zu dem, was der britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall die Idee vom „Westen und dem Rest“ bezeichnet. Dabei steht der Westen selbst im Zentrum und baut als mächtige Denkweise um sich herum sein Gegenteil, seinen Gegenpol auf, das grundlegend anders ist. An diesem Spiegelbild misst sich der Westen selbst, kann sein Abbild darin betrachten und durch die Andersartigkeit das Eigene als Idee erst erschaffen.

In den englischsprachigen Cultural Studies wird dieser Prozess auch als ‚Othering’- als Ver-Anderung bezeichnet. Das Eigene- das Bild von sich selbst also- ist dabei ökonomisch, sozial und kulturell hoch entwickelt, modern, kultiviert, zivilisiert- als Antithese werden ‚die Anderen’ - die Länder des Südens und des Ostens- seine Reste, unterentwickelt, roh, auf einer minderwertigen Zivilisationsstufe. Das Andere ist unreif- es muss erst heranwachsen, es ist infantil- kindlich und lernbedürftig. Es bedarf besonderer Förderung für einen guten Fortschritt. Dieses erfundene, aus vielen Versatzstücken zusammen geschusterte `Kind im eigenen Spiegel´ ist es, das dem Westen eine väterliche Autorität verschafft.





>>>JOURNALISMUS IM SPIEGEL
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Ein Treffen mit einem großen Verlagshaus. Begegnung mit den vietnamesischen JournalistInnen. Wir werden in einem großzügigen Konferenzraum empfangen. Auf den Tischen stehen Getränke, Obst, Blumen, Mikrofone. Alles wie immer, wie bei jedem Treffen ist man bestens vorbereitet und empfängt in willkommenen Rahmen recht aufwendig. Beindrucken kann das schon nicht mehr- bei der Fachhochschule für Medienwissenschaften gab’s sogar noch ‚Am-Tisch-Bedienungen’ mit traditionellen vietnamesischen Kleidern, und es wurden Getränke nachgeschenkt und Obst gereicht. Dann war noch das vietnamesische Fernsehen da, und hat über die Delegation aus Deutschland, uns also, berichtet. Die Übertragung war landesweit.


Am Kopf des Konferenztisches der Vorstand des Verlagshauses, auf der einen Seite unsere Gruppe, auf der anderen Seite die vietnamesischen JournalistInnen. Eine Frage interessiert unsere Gruppe besonders: Zensur- wie ist es mit der Zensur in Vietnam? „Die müssen doch alle schon die Zensurschranke im Kopf eingebaut haben, wenn sie schreiben“, sagen manche später nachdenklich. Vietnam ist schließlich ein repressives Regime. Was für gefährliche Arbeitsbedingungen. Vielleicht können sie von ihren persönlichen Erfahrungen erzählen, vielleicht gab’s ja mal `ne brenzlige Situation´? Die würde sich in einem Artikel doch ganz gut verarbeiten lassen.


Müde Köpfe hängen bald über den Tischen, einige Wachere stellen Fragen, der Rest lauscht mit halben Ohr mit, ob sich da nicht noch eine interessante Insider- Information oder eine aufregende Geschichte hervortun könnte. Der Vorstand und die JournalistInnen sind erstaunlich offen und interessiert, aber natürlich diplomatisch. Diplomatisch geben sie auf einfache Fragen differenzierte Antworten. En retour stellen sie uns ein paar Fragen. Darin steckt schon ein kleiner, aber versteckter Hinweis auf die Komplexität der Inhalte und die Verstrickung von Perspektiven und Standpunkten im Spiel von Frage und Antwort.





>>>IM FOKUS DER SPIEGEL-REFLEX
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Ein Treffen in einem großen Krankenhaus- Kinderkrankenhaus. Die Oberärztin und ihre Kollegin empfangen uns in einem kleineren Besprechungsraum. Es wird Tee ausgeschenkt. Vietnams medizinische Versorgung ist mangelhaft ausgebaut- gibt es da vielleicht ein paar persönliche Geschichten?


„Wie sind Sie hier ausgestattet? Wie viele Patienten gibt es? Wie viele Betten? Sind sie auch mal überlastet? Wie sieht es mit medizinischem High-tech aus? Mit welchen internationalen Partnern arbeiten sie da zusammen? Wer hat schlechten Zugang zum Gesundheitssystem? Wie sieht’ s mit der Versorgung mit Medikamenten aus? Wer kann sich die Behandlung überhaupt leisten? Gibt es hier so was wie eine Krankenversicherung? Wie hoch ist da die Eigenbeteiligung?“


Reißerisch kann man das Fragen nicht nennen, aber man versucht sich vorsichtig an den Kern des Interesses heranzutasten: Ein bisschen Fingerspitzengefühl sollte schließlich auch dabei sein. Die Oberärztin erwidert ebenso diplomatisch aber bestimmt- Skandalöses?- Fehlanzeige!


Sie lobt die internationale Entwicklungszusammenarbeit und bedankt sich für unser Interesse und unser Engagement. Dafür zeigt sie uns dann einige Abteilungen, die Neugeborenenstation und die Mutter-Kind Station, die Kinderabteilung und die Krebsstation. Wir werden durch das Krankenhaus geführt, es blitzt und klickt, Notizen werden gemacht, man steht sich gegenseitig im Weg und vor dem Bild und versucht, möglichst authentische, aussagekräftige Fotos zu erhaschen. Mit Handzeichen werden die Patientinnen aufgefordert, sich fotografieren zu lassen, die meisten wirken eher weniger erfreut, wen wundert’ s? Wir, die Schaulustigen werden mit weiteren Informationen über die einzelnen Abläufe und Ausstattungen versorgt, und beobachten mit besonderer Aufmerksamkeit.die Geschehnisse auf den Gängen und in den Zimmern. Einige Wenige gehen dann vor die Tür, raus aus dem Krankenhaus- aus ethischen Gründen- „Wir sind ja hier nicht im Zoo“. Für den Rest geht es weiter auf die Krebsstation.


Rathaus; Kommunalpolitik, Kommunistischer Jugendverband, Ministerium, Pagode, Kirche, Unternehmen: Händeschütteln, Dankesreden, gute Wünsche. Das ist das Standardprogramm. Unsere Delegation betont noch mal, wie wichtig es für uns ist, Vietnam in Deutschland bekannter zu machen. Der vorbereitete Text wird runtergespult. Sprachrohr vom Westen und zum Westen sind wir also. Man dankt hierfür anerkennend- und betont die Bedeutung für gute Internationale Beziehungen. Noch mal Händeschütteln, manchmal mit Foto, das war’s.





>>>ÜBER DIE KUNST DERS FRAGENS
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Was sagen uns unsere Fragen über uns selbst? Das ist ein wichtiges Thema, über das es sich lohnt nachzudenken. Denn Fragen sind vielschichtig. Sie enthalten oft schon Antworten. Jede Frage hat einen Text und einen Subtext- einen Inhalt ‚zwischen den Zeilen’. Das gilt für den Alltag, im Journalismus bei einem Interview und in der Wissenschaftlichen Befragung. Der Sozialwissenschaftler Paul Mecheril hat einen guten Begriff gefunden, um zu erklären, wie vielfältig eine Frage sein kann und was sie mit transportiert. „Alinierende Zuschreibung“ nennt er die im Subtext einer Frage enthaltenen Elemente, die etwas beim Befragen der Person zum Ausdruck bringt, ohne dass der oder die Befragte selbst etwas darüber ausgesagt hätte.


Es sind die Vorstellungen, Erwartungen und Bilder über Andere, die den Hintergrund einer Frage an eine Person bestimmt und sie zu Zu- Schreibungen werden lässt. Sie werden der Person z u -ge-schrieben und damit f e s t -geschrieben. Das ist ein aktiver Prozess von Seiten der Fragenden- von uns. Eine Zuordnung, eine verknüpfte Aussage. Ähnlich einer vorwurfsvollen Frage, die wir alle kennen und als solche entlarven können, weil sie offensichtlich Vorwürfe enthält. Alinieren ist der Begriff, der das ausgeklügelte, oft unsichtbare Getriebe der Zuschreibung darstellt. Es ist ursprünglich ein Begriff aus der Medienkommunikation und bedeutet, dass man Objekte unterschiedlicher Eigenschaften (z.B. Grafiken, Texte) zueinander ausrichtet. So besitzen sie eine gemeinsame Bezugslinie (links, rechts, oben, unten, Mitte, usw.).


Übertragen auf eine Frage heißt dies, dass hierbei verschiedene Dinge, die nicht zwangsläufig zusammengehören, wie zum Beispiel die Infrastruktur eines Krankenhauses mit den innen- und außenpolitischen Situationen und den Vorstellungen davon, schon in den Fragen so miteinander in Beziehung gesetzt werden, dass sie einen gemeinsamen Bezugspunkt erhalten. Jegliche Antwort muss auf diese Linearität eingehen und kann diese eingeschlossene Bedeutungslinie nur schwer brechen. Einer Antwort fehlt dann der Raum, komplexe, sich widersprechende oder ausgeblendete Informationen einzubringen und so miteinander zu verbinden, dass sie in einem anderen Verhältnis zueinander stehend erscheinen.


Das Gesamtergebnis einer Antwort hat demnach eine ganz andere Aussage. Nicht nur die Antwort ist also ihrem Sinn nach abhängig von einer Frage, was der allgemeinen Alltagslogik bekannt ist. Fragen haben auch etwas mit Autonomie und Freiheit zu tun. Eine Alinierende Frage kann die befragte Person in ihrerSelbstbestimmung beschneiden. Sie kann die möglichen Aussagen einer Person über sich selbst begrenzen. Sie kann eine Antwort damit einfach ausgedrückt im Voraus schon ‚verfälschen’, sie amputieren, sie so entstellen und verzerren, das sich gar nicht lohnt, die Frage überhaupt erst zu stellen.


Am Besten würde man dann aus sozialwissenschaftlicher Sicht gar keine Frage stellen, weil sie keine Aussagekraft besitzt, über das, was man glaubt zu fragen. Dafür besitzt sie eine besondere Aussagekraft über die Person, die fragt, über ihre bewussten oder unbewussten Absichten, über vorhandene Bilder und Vorstellungen. Die Frage ist Spiegel des journalistischen Selbst.





>>>VON DER MACHT DER BILDER UND DER VERANTWORTUNG DES JOURNALISMUS
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Diese Macht der geteilten Ideen, (Welt-) Bilder und der Sprache ist es, die uns beschäftigen sollte. Journalismus bezieht sich auf dieses System zurück- es nutzt legitime Vorstellungen über d e n „Fernen Osten“ oder d a s Entwicklungsland als Resonanzkörper. Wir JournalistInnen verwenden Sprache und Bilder als Medium der Kommunikation. Unsere Aufgabe ist es, etwas vorzustellen und darzustellen- zu repräsentieren also. Wir erzählen narrativ eine Situation- eine Geschichte. Damit kommt uns eine Repräsentationsmacht zu, die verführerisch ist und repressiv zugleich sein kann.


JournalistInnen sind keine besseren Menschen als andere. Reporterinnen beschreiben nicht von einem besonders neutralen Ort aus das Erlebte. Sie sollen subjektiv beschreiben, idealerweise ohne zu werten oder zu kommentieren. Sie können weder wahrhaftig noch objektiv sein. Das kann niemand. JedeR wird durch sein soziales Umfeld geprägt. Wie wir etwas denken, wahrnehmen, bewerten und letztlich auch unsere Handlungen wird durch unsere Sozialisation mitgeprägt, sagt der Soziologe Pierre Bourdieu.Ein neutrales Beschreiben oder Sprechen über etwas oder jemand anderen ist deshalb gar nicht möglich.


Besonders bei Reportagen, in der Fakten durch eigene persönliche Eindrücke ergänzt werden, gibt es eine unscharfe Trennlinie. Die Reportage schildert die Innenansicht einer Handlung. Das passiert immer von einem bestimmten sozialen Standpunkt aus. Dabei spielen Zugehörigkeiten eine Rolle, auch Privilegien oder diskriminierte Zugangschancen zu verschiedenen gesellschaftlichen Ressourcen haben Gewicht, werden aber nicht sichtbar gemacht. Auch die Beziehung zwischen SprecherIn und diejenigen, über die Gesprochen wird, und unsere Vorstellungen vom Gegenüber sind entscheidend. Diese Vorstellungen und Ideen werden aber üblicherweise nicht vorab verdeutlicht, wie in diesem Text.


Das Miterleben einer Geschichte, bei der es um Reportagen geht, beinhaltet auch das Rezipieren des subtilen Mitgedachten. Die Reportage zwischen subjektiven Eindrücken und objektiven Tatsachen ist deshalb besonders tückisch. Zu behaupten, man könnte objektive Fakten einbauen ist dabei genauso schwierig, wie zu behaupten, es ginge ganz und gar um persönliche Eindrücke, die aber ohne Wertung seien. Die Idee der Reportage ist deshalb sehr einfach gedacht. Wird sie von den ReporterInnen unreflektiert angegangen, wird sie kritiklos an sich selbst. Sie wird loyal gegenüber ihrem Resonanzrahmen- den großen Erzählungen, die sich der Macht der Bilder und der Sprache bedienen. Wir sind es, die mit dazu beitragen, dass diese großen Geschichten weiter erzählt werden, dass soziale Ungleichheitsverhältnisse konserviert werden.


Journalismus ist deshalb das Gegenteil von neutral, er ist politisch und transportiert in subtiler Weise symbolische Bilder, die Ausdruck von (globaler) Herrschaft sind. Deshalb ist es das differenzierte und distanzierte zu sich selbst, dass es braucht- eine kritische Unfügsamkeit zur Welt. Wenn wir also schreiben, dass Vietnam ein Land in Bewegung ist, dann können wir einen Schritt zurück treten und uns fragen, warum diese Behauptung überhaupt ein attraktiver Aufhänger zu sein scheint. Sie bezieht sich letztlich darauf zurück, das eine Entwicklung rückständig und schleppend ist, dass sich aber jetzt etwas schneller verändert, als üblich. Vietnam hat sich endlich entschieden, modern zu sein, nach dem Vorbild des Westens, so kann dieser Satz gesagt oder verstanden werden: `Guckt her, jetzt tut sich endlich was´.





>>>VOM ZURÜCK-BIEGEN, -BEUGEN UND –KRÜMMEN
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Was können wir im Spiegelbild unserer Reise, unserer Fragen, unserer Reportagen sehen? Was macht die Vorstellung von Vietnam aus, die Geschichten, die erzählt werden vom ‚Fernen Osten’ oder die große Erzählung vom ‚rückständigen Entwicklungsland’? Wie beeinflussen sie uns und welche Rollen spielen sie beim Fragen? Wo stehe ich selbst, von welchen Ort spreche ich und an wen richte ich meine Fragen und später meine Artikel? Was spielt jenseits von persönlichen Beziehungen und Biographien eine Rolle und wie bin ich selbst darin verstickt? Welche Gültigkeiten und Legitimität bekommen Fragen, Antworten- Reportageartikel und woher?


Das ist die Kunst des Fragens über sich selbst. Dabei geht es nicht darum zu behaupten, Vietnam hätte eine gute Gesundheitsversorgung, dass alle Gruppen gleiche Zugangschancen hätten und das es keine Diskriminierung z.B. von ethischen Minderheiten gäbe (Vgl. hierzu z.B. Kien Nghi Ha). Es kann auch kaum behauptet werden, dass Zensur keine Rolle spiele und gespielt hatte in Vietnam. Es geht auch nicht um ein Wegsehen oder Übersehen oder es einfach kompliziert wegzureden, wie es Kritiker oft falsch verstehen.


Es geht darum, Unsichtbares sichtbar zu machen- genauer hinzusehen- den Blickpunkt zu wechseln. Es geht um selbstkritisches Arbeiten, um Reflektion, auch journalistische Reflektion und um reflektierte Unfügsamkeit.


Reflektion heißt eigentlich zurück -beugen, -biegen, oder –krümmen. Das hat Bewegung. Vietnam
i s t ein Land in Bewegung, es verändert sich etwas. Die relevante Frage muss letztlich sein, ob der westliche Blick des Journalismus a u c h in Bewegung geraten ist, oder ob er weiterhin eine Treppe vorm Kopf hat und, ob wir auf unserer Reise selbst in Bewegung geraten sind oder ob wir eigentlich gar nicht unseren Ort gewechselt haben, um in Vietnam anzukommen.


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LITERATUR:


> http://www.bmz.de


> Edward Said (1978): Orientalismus., New York: Vintage.


> Stuart Hall (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument.


> Paul Mecheril/ Karin Scherschel/ Mark Schrödter (2003): „Ich möchte halt von Dir wissen, wie es ist, du zu sein.“ Die Wiederholung der alienierenden Zuschreibung durch qualitative Forschung. In: Badawia/ Hamburger/ Humrich: Wider die Ethnisierung einer Geeneration, Frankfurt a.M.: IKO.




LITERATURTIPPS ZU VIETNAM:


> Kien Nghi Ha (2005): Vietnam Revisited. Demokratisierung, nationale Identität und adoleszente Arbeitsmigration, Berlin: VWB- Verlag.


> Jörg Becker (Hg.) (2002):Wege des Wasserbüffels. Kunst, Kultur und Medien in Vietnam, Iserlohn: Institut f. Kirche u. Gesellschaft.


> Backes, Magg u. Schülein (Hg.) (2006): Fenster zur Parallelwelt. Reisebilder & Fernwehgeschichten. Reiseliteratur, Fotos und die Bilder der Ausstellung "beyond Paradise - Stationen des touristischen Blicks", Freiburg: Verlag iz3w.








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Kommentare:

Kommentier Andrea´s Reportage

Am 23.03.2007 um 19:46:10 schrieb Andrea an Olaf
Lieber Olaf. Leider habe ich die Reportage und damit Dein Kommentar versehentlich gelöscht, als ich den Text noch mal korrigieren wollte. Vielen Dank auf jeden Fall für Deine Anmerkung.

>>>Deine Frage war, ob Die Reportage mit Absicht keine Fotos enthält. Das ist eine sehr spannende Frage.

Meine Idee war nicht unbedingt, keine Fotos zu zeigen. Passend wären z.B. Fotos, die uns selbst zeigen.
Die "Macht der Bilder", von der ich geschrieben habe, heißt für mich nicht, dass wir nun als Konsequenz gar keine Bilder verwenden könnten. Es geht mir nur darum, kritisch mit Bildern umzugehen, sie zu kontextualisieren und Bilder auf ihre symbolische Macht hin zu überprüfen. Es geht um eine „De-Hegemonisierung“ hegemonialer Bilder- und Sprachwelten. (Vgl. z.B. Gayatri Chakravorty Spivak 1990)
Am 27.03.2007 um 17:36:06 schrieb Andreas
Ein großes Kompliment an die Autorin. Der Text ist echt gelungen und bietet ein schönes Angebot an "Denk-Steilpässen", die zum Überlegen und Nachgrübeln anregen. Obwohl manche Passagen (viell. gewollt) sehr provokativ sind (Journalismus - Gegenteil von neutral?)und ich persönlich auch nicht jeden Gedanken teile, ist der Text ein perfekter Impulsgeber zum Überdenken des eigene Standpunktes und der eigenen Definition von Journalismus.
Diese Lob bringt mich nun zum einzigen Kritikpunkt den ich habe: Ich denke der Text ist hier ein wenig deplatziert, besser gesagt, bin ich überzeugt, dass er an anderer Stelle viel wirkungsvoller sein könnte.
Dass hat folgende Gründe. Zum einen ist das Land Vietnam im Text eigentlich nicht wichtig, bzw. austauschbar, anstelle dessen hätte auch etwas über Sierra Leone etc. stehen können. De facto: Die Aussage des Textes ist von dem Land unabhängig. (Aber die Reise und auch diese Seite beschäftigt sich und setzt sich mit dem Thema Vietnam auseinander) Die beschriebene Wirkmechanismen von Fragen, Denken, Beobachten, Beschreiben und Berichten sind, meine ich, universeller Natur und können auch in verschiedenen anderen Rahmen betrachtet werden (West-Ost, Prekariat - Proletariat, Christentum - Islam etc., eine Vielzahl an Debatten in der Ethnologie, Soziologie und der Religionswissenschaft beschäftigen sich ja nicht umsonst ebenfalls mit dem Thema).
Ich persönlich finde der Text würde seine größte Wirkungsmacht in Journalistenschulen; bei Vorbereitungstreffen etc. entfalten, um dort als Diskussionsgrundlage und Standortbestimmung der journalistisch Motivierten zu dienen. Gerade in den letzten Abschnitten des Textes findet man essentielle Fragen, die es wert sind durchdacht und von Jedem für sich selbst beantwortet zu werden, bevor man losgehen möchte, um von der großen oder kleinen Welt zu berichten und zu schreiben.
   
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