"Alles, außer Liberalismus"
15.02.2007

Es ist warm in Hanoi. Zwischen 18 und 25 Grad, angenehm für Februar, genau richtig für uns. Der deutschen Kälte entronnen, freuen wir uns über jeden warmen Tag. Wir hocken am Zaunvor unserem Hotel. Ab und an fahren hupende Motorräder vorbei. Wir wohnen in einer beruhigten Zone, hupen verboten, das stört aber niemanden. Ein Mann mit dicker Lederjacke, ein Kind mit Mütze und Schal, eine Frau mit Fausthandschuhen. 25 Grad heißt Winter in Vietnam.

Meine Kollegin Lisa schaut zum dritten Mal auf ihr Handy. Über 45 Minuten sitzen wir schon hier und warten auf unsere Verabredung; Hanh heißt sie, ist 18 Jahre alt und studiert Philosophie an der Universität Hanoi. Kennen gelernt haben wir sie auf einer pompösen Veranstaltung: 19 deutsche Journalisten, 600 vietnamesische Studenten, ein Hörsaal und ein fast zweistündiges Programm. Ein Abend, wie er surrealer nicht hätte sein können, denn die jungen Leute waren nicht wegen dem Programm gekommen, sondern wegen uns. Dreißig Studenten für jeden von uns. Sie lächeln uns an, sie fassen uns an, sie sprechen uns an. Manchmal reicht ihr Englisch nicht über „What`s your name?“ hinaus. Schreiben sollen wir ihnen, in Kontakt bleiben, ein bisschen Westen bringen.
Hanh sitzt genau zwischen uns und spricht fließend Englisch. Sie erzählt von ihrem Leben, vom Studium, von den Problemen mit der Politik. Lisa ist sofort Feuer und Flamme. Die erste Person, die offen spricht, ohne Aufpasser, ohne Reglementierung. Sie tauschen Mailadressen und Telefonnummern. Lisa strahlt über beide Ohren.

Schon fast eine Stunde. Kurz bevor wir aufgeben wollen, kommt eine junge Frau mit langen Schwarzen Haaren und sehr gepflegter Kleidung auf uns zu. „Hallo, bist du Lisa?“ fragt sie auf Englisch.
Sie heißt Ngoc und ist Hanhs Freundin. Hanh wird sich etwas verspäten, aber wir können vielleicht schon mal mit ihr reden. Wir setzen uns in das Restaurant neben dem Hotel und versuchen, mit Ngoc ein Gespräch zu führen. Nach zwanzig Minuten kommt auch Hanh etwas gestresst dazu. Sie wirkt burschikos mit ihrem blauen Leinenhemd. Sie hat Schulterlanges dünnes Haar und eine Nickelbrille. Wir stellen unser Mikrofon auf und beginnen das Gespräch. Hanhs Eltern sind Ärzte und haben, wie bei den meisten Jugendlichen, entschieden was sie studieren soll. Wir stellen schnell fest, dass die beiden Mädchen aus wohlhabenden Familien stammen. Fehlen tut es ihnen nur an Liberalismus, meint Hanh. Ihr Studium enttäuscht sie etwas. Die ersten beiden Jahre verbringen alle Studenten mit Parteilehre: Marx, Engels und Ho Chi Minh, erst danach beginnt das eigentliche Studium. „Wir müssen ständig alles aus dem Blick von Marx sehen. Was hätte er gesagt, was hätte er gemacht? Das ist oft sehr anstrengend.“ Wenn die Studenten sich kritisch äußern oder Dinge anders sehen als Marx, kann es schnell zu Problemen kommen. Die politische Linie ist wichtig, wer sie einhält, kommt auch weiter. Nur wer im kommunistischen Jugendverband Mitglied ist, darf studieren, bekommt später einen guten Job. Trotzdem lieben sie ihr Land, die Kultur, die Menschen. So sehr es sie manchmal weg zieht, wieder kommen würden sie immer.
Rund zwei Stunden dauert unser Gespräch, dann verabschieden wir uns und versprechen einen Folgetermin. Oben auf dem Zimmer hören wir das Aufgenommene ab; es ist nichts zu hören. Nur Rauschen, zwei Stunden Rauschen: Trotz Probeaufnahmen hat das Mikrofon versagt. Wir versuchen alles aus dem Kopf aufzuschreiben.

Einige Tage später das zweite Gespräch. Wir treffen uns vor dem Hotel, fahren diesmal mit einer Art Rikscha durch Hanoi. Wir hatten Hanh und Ngoc gebeten uns Hanoi zu zeigen, ihre Lieblingsplätze, ihr Leben.
Wir fahren fast zwei Stunden durch die Stadt, Lisa mit Hanh und ich zusammen mit Ngoc. Ihre Mutter ist Angestellte, ihrem Vater gehörte ein Reisebüro. Bevor er starb, fuhr sie oft mit ihm auf Reisen, leitete Touristengruppen, präsentierte stolz ihr Land. Das ist auch der Grund, warum sie so ausgezeichnet Englisch spricht, besser sogar als wir deutschen Journalisten. Jetzt leitet ihr Onkel das Unternehmen und Ngoc studiert an der Internationalen Wirtschaftsschule und ist sehr unglücklich: „Meine Eltern haben für mich gewählt, aber das Studium interessiert mich nicht, Wirtschaft ist abstrakt und kalt. Ich würde viel lieber Journalistin werden.“ Seitdem sie mit ihrem Vater durch die Welt gereist ist, Paris und Berlin gesehen hat, lässt sie das Fernweh nicht mehr los. Am liebsten möchte sie nach Amerika. „Als Journalistin ließe sich meine Reiseleidenschaft optimal mit meinem Beruf verbinden. Ich hätte die Möglichkeit viel über andere Länder zu erfahren und auch noch Geld damit zu verdienen.“ Doch ein Zweitstudium kommt kaum in Frage. Pro Jahr muss sie 2 Millionen Dong, umgerechnet etwa 100 Euro für ihren Studienplatz bezahlen. Für vietnamesische Verhältnisse ist das viel, ein Monatslohn in der Stadt liegt etwa in dieser Höhe, der Verdienstverfall in ländlichen Regionen ist riesig. Vom Staat gibt es keine finanzielle Unterstützung, oft gehen die Jugendlichen arbeiten. Doch dadurch steigt der Leistungsdruck noch mehr an, nicht wenige zerbrechen daran.

Wir halten am Hanoier Blumenmarkt. Rot, Orange, Lila, Rosa und Grün an jedem Stand. In den engen Gängen drängen sich Vietnamesen mit dicken Geldbündeln. In drei Tagen wird das Neujahrsfest gefeiert. Jede Familie braucht einen Mandarinen- und Mandelbaum, das Haus wird geputzt und feierlich geschmückt. Die Blumenhändler machen in diesen Tagen den Umsatz des Jahres. Selbstverständlich gelten für Touristen Extrapreise, wer keine Ahnung hat, zahlt schnell das Zwanzig- oder Dreißigfache des Preises. Ngoc handelt für mich. Ich bezahle laut Hanh immer noch zu viel, aber ich gebe die 30.000 Dong - 1,50 Euro - gern für den Strauß frischer Gerberas.

Weiter geht es zum Westsee, dem größten See in Hanoi. Wir unterhalten uns über Amerika. Ngocs Augen beginnen zu leuchten, Amerika ist ihr Vorbild, so soll Vietnam einmal werden. „Die Kultur soll schon erhalten bleiben, sie ist sehr wertvoll, aber sonst sollte sich das Land mehr öffnen. Die Amerikaner sind immer in Bewegung, haben immer etwas zu tun. Das ist toll.“ Ihre Informationen über Amerika bezieht Ngoc aus Zeitungen, dem Fernsehen und Freunden. Selbst Sicherheit und niedrige Kriminalitätsraten in Vietnam würde Ngoc hergeben „Für manche Dinge muss man Opfer bringen.“, meint sie erwachsen.

Wir biegen in eine Straße ein und plötzlich ist es still. Überall in Hanoi dröhnen die Motoren, hallen die Hupen und brüllen sich die Menschen an, kaum kann es eine lautere Stadt geben, aber hier ist es still, der See schluckt die Geräusche. „Schau mal, hier wohne ich!“ meint Ngoc, als wir an einem gelben Haus vorbei fahren. Hier wohnt die ganze Familie unter einem Dach, jeder kümmert sich um jeden. Die Häuser sind schmal, dafür lang und hoch. Meist finden sich nur ein bis zwei Zimmer auf einer Etage. „Wenn unten das Telefon klingelt und ich oben in meinem Zimmer bin, muss ich erstmal die steile Treppe runter, das ist manchmal schon nervig.“ sagt Ngoc mit einem Lächeln. Sie mag die Wohngegend sehr, besonders wegen der Ruhe und dem Blick auf den See. „Es ist ein bisschen, als wäre ich auf dem Land.“

Nach einigen Metern halten wir vor einer Pagode. „Das hier ist meine Lieblingspagode.“ ruft Hanh nachdem sie aus dem Sitz vor uns gesprungen ist. Wir folgen ihr in den Innenhof. Überall stehen Bäume, Sträucher und Blumen. Ich fühle mich an diese Dschungeltempel aus Abenteuerfilmen erinnert, glücklicherweise fehlen heimtückische Fallen. Auf einem Podest sitzt ein großer goldener Buddha und lächelt auf uns hinab, ein Vogel zwitschert. „Frieden“ fällt mir ein, so fühlt sich Seelenfrieden an. Ngoc ist oft hier, sie betet, sie denkt nach und genießt die Stille. Ein Rückzugsort wie dieser ist selten in Hanoi. Weiter hinten brennen Räucherstäbchen, in einer Art Altarraum werden Opfer gebracht. Bananen, Ananas, Geld, Coladosen. Lisa kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, Amerika ist überall.
Draußen verabschiede ich mich, ich muss los, Lisa bleibt noch, ein Älter Herr nimmt mich mit. Auf dem Xeom, Motorrad durch Hanoi, meine Blumen wehen im Wind. So fühlt sich Frieden an. Besser kein Amerika.

Hanois Lokalpolitiker zeichnen große Pläne für die Hauptstadt: Ein neuer, großer Flughafen soll gebaut werden, mehr Hoteltürme müssen her, eine U-Bahnlinie wird die Altstadt zerteilen, eine bessere Infrastruktur soll geschaffen werden. Bis 2010 sollen jährlich 2 Millionen Touristen in die Stadt geholt werden, besonders das Neujahrsfest, Pagoden und Seen gelten als Attraktionen. Ngoc könnte nach ihrem Studium das Reiseunternehmen leiten und Teil der Vision werden. Vielleicht führt sie Touristen durch die Stadt, vielleicht Amerikaner.


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