Raus aus Deutschland - rein in den Kulturschock!
21.03.2007

Es regnet, zum ersten Mal während unseres Aufenthaltes regnet es, und dieses Mal gibt’s nicht nur den obligatorischen Nieselregen, es schüttet.
Drinnen im Taxi friere ich leise vor mich hin,weil der Fahrer seine Klimaanlage mir zuliebe voll austestet, aber lange kann es ja nicht mehr dauern. Immerhin gurken wir nun schon seit geschlagenen 25 Minuten durch den immer dicht gedrängten Mopedstrom. Junge Paare zwängen sich lachend an uns vorbei, Mädchen schmiegen sich in Gedanken versunken an ihren Freund und versuchen sich unter dem Regencape einzurichten, andere Gruppen Jugendlicher sitzen am Straßenrand unter regenschweren Planen und genießen ihren Klebreis mit Eis… Unschwer erkennbar ist heute Valentinstag und die Hanoier Jugend gibt sich diesem Trend gerne hin. Todesmutig wagen sich einzelne Verkäufer mit einem riesigen Bund Herzballons in Rosa auf die belebten Straßen und bugsieren ihre Ware behutsam auf die im Schneckentempo kriechenden Mopeds zu. Oder vielleicht lieber eine Rose für die Liebste gefällig?
Wir haben die richtige Zubringerstraße gefunden, im Südteil Hanois… Hier war ich schon lange nicht mehr, und auch hier bestätigt sich der allgemeine Eindruck des Ausbruchs: Unfertige Büroturmskelette ragen weit über unseren Köpfen in den Himmel, die Straße wird an fast allen Stellen instand gesetzt und verbreitert. Wir halten an einer Ampel, obwohl es dauert, bis ich diese überhaupt finden kann. Ungefähr 20 Meter rechts vom Wagen hängt irgendwo in der Dunkelheit ein rotes Licht, Zahlen laufen darunter rückwärts und bereiten uns auf den der Formel-1 gleichen Start in 25 Sekunden vor. Diese Kreuzung hat gigantische Ausmaße, erinnert mich an ein Fußballfeld, obwohl die Front der noch wartenden, uns in 20 Sekunden entgegen strömenden Fahrzeuglawine auf der anderen Seite auch ein bisschen an monumentale Schlachtszenen aus „Braveheart“ erinnern könnte.
Gut, dass ich im Auto sitze…
Zehn Minuten später hält der Taxifahrer an, deutet auf eine schummrig beleuchtete Nebenstraße und wiederholt den Namen der Adresse. Ich bezahle und verlasse den Kühlschrank in den mittlerweile wieder auf Nieselniveau zusammengeschrumpften Regen.
Kurze Zeit später betrete ich ein Karaoke-Café, steige in den dritten Stock und öffne die Tür zu Raum 4. Einige fragende Gesichter mustern mich, doch als aus der Ecke links von mir ein „Hey, sie hat hergefunden!“ schallt lächeln diese mich freundlich an.
Matthias und Nadja, zwei Deutsche im Freiwilligendienst, haben zusammen mit vietnamesischen Bekannten und Freunden einen Karaokeabend organisiert und mich eingeladen. Und sofort sitze ich zwischen jungen Studenten, eifrigen Sängern, Hanoibier und getrockneten Bananenscheiben. Gerade läuft eines meiner Lieblingslieder und ich darf auch gleich den Frauenpart übernehmen.
Alte englische Schinken wechseln sich mit moderner vietnamesischer Popmusik und traditionellen Liedern ab, es wird geredet, applaudiert, viel gelacht und bald geht es auf 22.30 Uhr zu – der Zapfenstreich naht.
Wir bezahlen und ich werde einem Kumpel von Nadja und Mathias anvertraut – endlich wieder Moped fahren!!
Nadja schwingt sich auf ein Fahrzeug und ihr Bekannter Tien nimmt hinter ihr Platz – ein eher ungewöhnliches Bild, wenn die Frau fährt und der Mann hinten sitzt. Außerdem bewundere ich Nadjas Mut, sich durch diesen Verkehr zu trauen, doch beweist sie in den nächsten 20 Minuten Fahrt, wie gut sie bereits den vietnamesischen Verkehrsrhythmus im Blut hat.
Nadja, 22 Jahre alt, und Matthias, 20 Jahre sind für drei Monate nach Vietnam gekommen, um hier im Rahmen des Freiwilligenprogramms „Kultur-Joker International“ das vietnamesische Leben kennen zu lernen und gleichzeitig ehrenamtlich mit Jugendlichen zu arbeiten. Dieses Programm wird durch die Landesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V. (LKJ) angeboten, die durch ihr Projektbüro EXCHANgE ein umfassendes Vietnam-Programm mit Schwerpunkt auf interkultureller Jugendarbeit (u.a. Jugend- und Fachkräfteaustausch, internationaler Multiplikatorenarbeit) anbietet, das Netzwerk für Deutsch-Vietnamesische Jugendbegegnungen in Sachsen-Anhalt ins Leben gerufen hat und multilaterale Projekte in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union betreut.
Der „Kultur-Joker“ ist ein Angebot für deutsche Jugendliche, in neue Kulturen eintauchen zu können und dort den Alltag zu bestreiten und mit Jugendlichen zusammenarbeiten zu können.
Nadja hatte von dieser Möglichkeit über die Jugendseite der Volksstimme p16 erfahren und bewarb sich ebenso, wie Matthias, der nach einem FSJ eher zufällig auf das „Kultur-Joker“-Angebot gestoßen war. Da sein Plan eines Freiwilligen Europäischen Jahres nicht geklappt hatte, Matthias aber schon immer den Wunsch hegte, mal „raus aus Deutschland“ zu kommen und Auslandserfahrung zu sammeln, schloss er sich seiner Kollegin an, die den Aufenthalt in Vietnam als Test für ihr angestrebtes Ethnologiestudium und ein dauerhaftes Leben im Ausland sieht.
Beide geben vier Mal in der Woche an der Hochschule für Fremdsprachen in einem Erstsemester und einem Kurs höherer Semester Deutschunterricht. Neben Kennenlernrunden, Berichten über Deutschland und Auflockerungs-Spielen, wollen beide vom Frontalunterricht Abstand nehmen und vor allem den Schülern die Möglichkeit geben, sich zu äußern. „Das ist zwar gar nicht so einfach, weil die Leute solche Strukturen nicht gewohnt sind, aber die Vietnamesen sind die Meister im Beherrschen des Chaos!“, meint Matthias.
An der privaten Schule „NADECO“ nehmen beide zusätzlich an zwei von Studenten organisierten Deutschclubs teil und geben ein bis zweimal in der Woche bei einem privaten Deutschlehrer Phonetikunterricht: „Ku-gel-schrei-ber!“, fällt Nadja dazu immer wieder ein, und mir kommt in den Sinn, wie selbstverständlich einfach uns unsere Sprache doch vorkommt, wie kompliziert sie jedoch für die viele Vokale gewöhnten Vietnamesen sein muss.
Doch bevor beide mit der Arbeit beginnen konnten, mussten sie sich erst einmal mit einem vollkommen fremden Lebensstil vertraut machen: „Am ersten Tag haben wir uns fünf Minuten an die Straße gestellt und überlegt, dass wir da wohl nie drüber kommen werden!“, meint Matthias zum ungewohnt chaotischen Verkehr. „Außerdem ist es ziemlich schwierig, sich daran zu gewöhnen, dass einen alle anstarren und manchmal auch ihre Kinder zwingen, jetzt doch mal zu winken. Andererseits ist es hier echt schön, dass man einfach mal gucken darf und meistens freundlich zurückgeguckt wird, das ist nach einer kurzen Zeit auch alles ganz normal. Und wenn man dann auch noch ‚Xin chào!“ herausbekommt, dann freuen sich die meisten wahnsinnig.“ Nadja kann vom Anstarren noch ein ganz anderes Lied singen: „Ich war am Anfang ein bisschen irritiert, weil ich dachte, die Leute seien durch die ganzen Backpacker-Touristen schon an Dreadheads gewöhnt. Aber da ich auch noch rote Dreads habe, hat das viel Aufmerksamkeit bekommen. Wenn ich für jedes Mal Anfassen 1.000 Dông bekommen hätte, wäre mein Rückflug allein dadurch bezahlbar gewesen!“, lacht sie
Ganz besonders ist den beiden die Gastfreundschaft der Vietnamesen und deren Freude am Essen und Trinken aufgefallen: „Unser Chef, Herr Khai, hat uns gleich zur Totenfeier seines Opas in sein Heimatdorf eingeladen, ein sehr schönes Dorf!“ meint sie, und Matthias fügt an, dass man ihn gleich den selbst gebrannten Dorfschnaps ausgiebig verkosten lassen wollte. „Schwierig wird es nur dann, wenn die Leute herausbekommen, wo du herkommst.“, meint Nadja. „Hey, du kommst aus Deutschland? Na, dann verträgst du ja Bier wie nichts!“
Ganz kurios findet sie außerdem die Einstellung der Vietnamesen zur Umweltverschmutzung: „Da machen die Leute im größten Smog auf der Verkehrsinsel ihren Sport und werfen ihren Müll einfach auf die Straße, das ist weniger schön.“ Auch Matthias findet das Leben auf der Straße gewöhnungsbedürftig, obwohl „das Miteinander hier draußen wirklich schön ist!“ „Aber den Umgang mit den Menschen muss man trotzdem erstmal üben, sich auf deren Mentalität einstellen. Es nützt halt nichts, wenn man über etwas wütend wird und sich darüber lautstark aufregt.“
Was beide am besten finden, ist die Möglichkeit hier selber Moped zu fahren und sich dadurch freier von Ort zu Ort bewegen zu können, also haben sie hier erst einmal für umgerechnet 15 Euro den Führerschein gemacht.
Und was vermissen sie am meisten? „Müsli zum Frühstück!“, fällt Nadja spontan ein. „Und ich dachte ja, hey, du kommst nach Vietnam, ganz viel buddhistische Küche, viel vegetarisches Essen und du kannst richtig reinhauen ohne gucken zu müssen. Aber die Vietnamesen machen ganz viel mit Fleisch – sie essen nicht viel davon, und es ist auch nicht viel in den Speisen drin, aber halt überall ein wenig.“ Damit musste die Vegetarierin sich erst einmal arrangieren. Matthias vermisst vor allem die Ruhe: „Mir fehlen einfach die fünf Minuten Auszeit, die man sich mal gönnen kann, indem man sich in einem Park auf die Bank setzt und abschaltet; das ist hier einfach nicht drin.“
Und was hat Vietnam, was Deutschland nicht zu bieten hat?
Nadja preist erst einmal den Kaffee mit Vinamilk an, um im gleichen Atemzug das Moped zum eigentlichen Favoriten zu küren. Auch Matthias sieht das ähnlich: „Es gibt so viele schöne andere Sachen, aber da ich noch nie vorher auf einem Motorrad saß, und hier gleich allein fahren kann, ist das einfach die tollste Sache. Nichts ist so aufregend, wie der Hanoier Verkehr!“
Und die nächsten Minuten auf dem Rücksitz des Motorrads kann ich dieses Gefühl nur teilen.


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