„Sozialismus und Marktwirtschaft sind kein Widerspruch“
05.02.2007

Von dem eigenwilligen Weg Vietnams in die Moderne

Werbung für Konsumgüter säumen die Straßen, Coca-Cola steht in den Regalen, der Bei-tritt zur Welthandelsorganisation samtdes damit einhergehenden Abbaus von Handels-hemmnissen ist längst erfolgt, auf den Straßen wird um jeden Dong gefeilscht, immer mehr ausländische Autos verstopfen die engen Wege der Hauptstadt Hanoi, über Internet und Satellitenverbindungen kann man mit der ganzen Welt Kontakt aufnehmen - ober-flächlich erinnert in Vietnam nichts mehr an die sozialistische Gesellschaftsordnung, die sich der südostasiatische Staat qua Verfassung gegeben hat. Mit dem großen Bruder So-wjetunion im Rücken kämpfte man in den siebziger Jahren gegen US-Amerikanische Im-perialisten, heute ist Vietnam aktives Mitglied der einst als Bollwerk gegen den Kommu-nismus gegründeten „Vereinigung der Staaten Südostasiens - ASEAN“, die Sowjetunion längst aufgelöst.

„Sozialismus und Marktwirtschaft sind kein Widerspruch“, findet Doan Van Thai. Der Funktionär der Jugendorganisation „Ho Chi Minh“ - mit 6,1 Millionen zahlenden Mitgliedern Kaderschmiede der kommunistischen Partei, erinnert mehr an den kosmopolitischen Ma-nager als an einen verstaubten Funktionär. Zum Studium Ende der achtziger Jahre in Russland, habe er erkannt, dass der dortige Sozialismus vom theoretischen Ideal weit entfernt sei - in Vietnam versucht man nun, neue Wege zu gehen. „Markt und Wirtschaft sind kein Produkt des Kapitalismus, sie sind ein Produkt der menschlichen Entwicklung“, meint Thai - auch das kann Dialektik sein. Der aus dem Wirtschaftskreislauf resultierende Mehrwert solle eben der gesamten Bevölkerung zugute kommen und nicht nur einer klei-nen Minderheit, beschreibt der Sekretär des Zentralkomitees des Jugendverbandes die Politik seiner Partei.

Mit einem namenlos bleibenden aufstrebenden Funktionär an seiner Seite sitzt der 45-jährige Thai an einem Samstagmorgen eine Woche vor dem vietnamesischen Neujahrs-fest im Februar mit wachen Augen in der Zentrale des Jugendverbandes in der Stadtmitte von Hanoi. Der Straßenlärm, der selbst an Wochenenden nicht verebbt, dringt fast unge-dämpft in das Konferenzzimmer mit den tiefen Sesseln. „Können sie unseren grünen Tee trinken?“, fragt er die Gäste aus dem Westen höflich, bevor er beginnt, zu erzählen. Von den Chancen, die der Beitritt zur Welthandelsorganisation im Januar 2007 bietet, von den Vorteilen und Notwendigkeit einer Öffnung hin zum freien Markt, „wir sind ein Teil der Welt, wir müssen auch als solcher agieren“, meint er. Der Zusammenbruch des Sozialis-mus in fast allen Teilen der Welt, die isolierte Lage Cubas? „Wir haben aus den Erfahrun-gen der anderen Ländern gelernt und gehen unseren eigenen Weg“, erwidert er zurück-haltend, aber doch bestimmt. Marx und Lenin hätten schließlich im 19. und 20. Jahrhun-dert kaum die Herausforderungen der jetzigen Welt erahnen können. „Die Kommunis-mustheorie muss neu geschrieben werden“, findet Thai, um am Ende des Gesprächs doch noch relativierend zu erklären, dass man natürlich immer noch prinzipiell am Marxismus-Leninismus festhalte, diesen jedoch auf die spezifischen Bedingungen in Vietnam anwen-de.

Zensur und Kontrolle der Medien zeigen auf subtile Weise die Macht des Staates, doch die seit zwanzig Jahren forcierte, wirtschaftsliberale Doi-Moi Politik, wörtlich „Erneuerung“, sorgt für ständig steigenden Wohlstand der Massen - und somit für eine Legitimierung des Alleinvertretungsanspruches der Partei. Mit schnellen Sätzen handelt Thai China ab - „wir müssen aus deren Fehlern lernen“, drückt seine Achtung vor den aufstrebenden Soziali-sten in Lateinamerikanischen Ländern aus - „ein logischer Prozess der menschlichen Ent-wicklung“ und sieht es als durchaus realistisch an, dass auch in Europa „in zehn, späte-stens zwanzig Jahren der Sozialismus wiederkommt, auch wenn es jetzt nicht danach aussieht“.

Thai ist kein verblendeter Träumer und Weltverbesserer. Studiert in Russland und Austra-lien, fließend in drei Sprachen und gewandt auf internationalem Parkett hat er eine Vision für Vietnam, die sich gleichzeitig in gängigem globalen Wirtschafts- und Politikverständnis ausdrückt. Marktwirtschaft und Handel mit dem Ausland? Ja, aber nicht zu jedem Preis. Export des vietnamesischen Systems im Sinne des kommunistischen Internationalismus? Nein, keine Angst, man konzentriere sich auf das eigene Land. Ist die Opposition dem Machtanspruch der Partei nicht gefährlich? Er habe keine Angst, so lange Vietnam sich so beständig entwickle wie in den letzten Jahren mit Wachstumsraten von über acht Prozent, brauche man sich vor einem Politikwechsel nicht zu fürchten. Und damit hat er nicht un-recht: Die Analphabetenquote liegt bei beachtlich niedrigen sieben Prozent, die Entwick-lung ruraler Gegenden wird besonders fokussiert, neue Gesetzestexte sollen die kosten-freie Versorgung im Krankheitsfall bei unter-6-Jährigen sicherstellen.

Propagandaplakte mit Hammer und Sichel, dem roten Stern und Ho-Chi-Minh verkünden frohe Wünsche für das Neue Jahr, überall liegt Aufbruchsstimmung in der Luft. „Eine voll-kommen gleiche Gesellschaft gibt es in Vietnam natürlich nicht, aber wo gibt es die schon? In Deutschland? Ich meine, nicht.“ Verbohrte Theorie ist Pragmatismus gewichen, die Vision von einer besseren Welt bleibt. „Ja, die Weltbank hat bestimmte Regularien, aber sie hat das Geld, das wir dringend für die Entwicklung unseres Landes brauchen“, schafft Thai den Spagat zwischen sozialistischer Gesellschaftsordnung und Partizipation am liberalistischen Ansatz der Weltbank und der Welthandelsorganisation. Grassierende Armut in den ländlichen Gegenden sowie den Vorstädten, politische Häftlinge, fehlende oder unbezahlbare medizinische Versorgung sowie Zensur im öffentlichen Raum werfen ein schales Licht auf die angepriesenen Errungenschaften. Die Jugend des Landes gibt Hoffnung. 30 Prozent der Bevölkerung - Vietnam hat 82 Millionen Einwohner - sind unter 14 Jahren, frei von ideologischem Ballast suchen sie den Mittelweg. Gemeinsames Singen von kommunistischen Arbeiterliedern unter roten Fahnen und dem Konterfei des Staats-gründers Ho-Chi-Minh? Ja, aber mit dem neuesten Handy in der schicken Handtasche. „Die Jugend ist nicht nur die Zukunft des Landes, sondern schon der Hausherr“, meint Thai lächelnd.

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