Eine Email erklärt uns den Weg. Die Anfahrtsskizze landet in meinem Notizbuch und schon stehen wir zu viert auf der Straße und rufen ein Taxi. Die Hauptstraße um den Hoan-Kiem-See ist
voller Motorräder. Hell erleuchtet steht der Tempel auf der Schildkröteninsel und die Leuchtschrift bei der nahen Pagode wünscht uns ein Frohes Neues Jahr und alles Gute für die Partei! Endlich hält ein Taxi und wir retten uns in das sichere Innere, nachdem Deborah engere und schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Profil des Rads eines Motorrads schließt. In stammelndem Vietnamesisch deuten wir auf die aufgeschriebene Adresse und wäre es nicht so dunkel, könnte man wohl die Fragezeichen über dem Kopf unseres Fahrers sehen. Auch die Anfahrtsskizze hilft nicht weiter und wir werden immer hilf- und ratloser. Bis sich irgendwann Andrea erinnert, im Besitz eines Stadtplans zu sein.
Der Abgleich zwischen Skizze und Plan kann die Verwirrung etwas lichten und wir setzen uns in Bewegung. Es gibt tröstende Worte für das schmerzende Bein, während wir über die Chu’o’ng-Du’o’ng-Brücke aus dem Zentrum gefahren werden. Der Fluss liegt ruhig unter uns. Auf der anderen Seiten sehen wir weniger Lichter und Verkehr. Stück für Stück entfernen wir uns aus den Gebieten, die im Touristenführer verzeichnet sind. Bald sind wir auf der richtigen Straße nur leider ist diese etwas lang geraten und so geht es im „Stop and Go“ zwischen leisen Fluchen des Fahrers und immer wieder langen Blicken auf die Karte weiter. Irgendwann fahren wir von der größeren Straße ab und halten vor einer kleinen Gasse. Die Augen wollen uns fast übergehen, als wir sehen, dass die Adresse stimmt. Wir bedanken uns bei unserem Fahrer und fragen ihn: „Können sie uns nachher wieder abholen?“ Er blickt uns an und sagt nichts, fängt an zu lächeln. Vietnamesen sagen nicht nein, nur unglaubhaft ja oder garnichts. Erleichtert zieht er von dannen, nachdem wir unsere Idee verworfen haben. Jetzt sind wir hier. Wo und wozu eigentlich?
Rückblick. Einige Tage zuvor. Während die Gruppe einen weiteren Tag voller offizieller Termine erwartet, werden Tina und Christoph schon am Morgen beim Goethe-Institut entlassen. Dort haben sie einen Termin mit jungen Künstlern. Leicht neidisch blicken wir hinterher. Am Abend treffen wir sie wieder, hellauf begeistert von dem Tag. Die Ankündigung einer Vernissage, zu der mitkommen kann, wer will, versetzt auch mich in Begeisterung. Auch einige andere schließen sich der Gruppe an. Das Ganze ist für den nächsten Abend geplant und findet in einem kleinen Raum zwischen Opernhaus und historischem Museum statt, etwas abseits, so dass wir einen Moment brachen um uns hinzufinden. Natürlich ist der Raum zur Straße offen, wie so vieles hier. Was sieht der geneigte Zuschauer? In der Mitte eine Reihe von großen runden, halbtransparenten Porträtbildern von Vietnamesen auf der Straße. Alte und Junge. Frauen und Männer. Keiner schaut fröhlich, alle missmutig, mit den Gedanken irgendwo weit weg.
An den weißen Wänden erblicken wir runde Zeitungsausschnitte, an den Seiten mit Federn dekoriert. Nach einiger Zeit offenbart sich im Gespräch ein Zugang. Die Artikel thematisieren sozialpolitische Probleme des Landes und die Porträts in der Mitte stellen einen Drachen dar, der sich durch Kummer und Sorgen der Vietnamesen nährt. Auch wenn es bei dieser oberflächlichen Interpretation bleibt, ist doch klar, dass es sich hier um sehr kritische Kunst handelt und mein Interesse ist geweckt. Im Verlauf des Abends kommt man mit verschiedenen Menschen ins Gespräch. Ein Künstler, der zum Stadtjubiläum das gesamte Zentrum Hanois als Installation verwenden möchte und ein Taiwanese, der in Amerika studiert, in Deutschland gearbeitet hat. Bernard ist wohl die Definition eines Globetrotters darstellt („Mein einziger Freund heißt Samsonite.“). Mit ihm verbringt eine kleine Runde, bestehend aus Jens, Andrea und mir, den Rest des Abends. Im Taxi fahren wir an der Autobahn vorbei. Nachts ist hier der Umschlagplatz für alles Gemüse und Obst, das am Tag in der Stadt verkauft wird. Zwischen Hunderten feilschenden Vietnamesen häufen sich die Warenberge und die Straße ist vom Licht der Fahrzeuge fast taghell erleuchtet. Unser Taxi quält sich langsam durch die Massen und wir steigen schließlich am nördlichen Ende der Altstadt aus. „Zu Fuß ist besser.“ Meint unser Freund und wir können nur beipflichten. Abseits der touristischen Brennpunkte hupen weniger Motorräder, keine Verkäufer lauern einem an jeder Ecke auf und es beginnt sich so langsam eine wunderschön entspannte Atmosphäre zu entfalten. In einem kleinen Lokal voller junger Menschen essen wir „Kem Karamel“ und Bernard, der mit solcher Selbstsicherheit zwischen allen Kulturen schwimmt und überall zu Hause zu sein scheint meint: „Das ist das selbe, was du in Paris essen kannst. Da kostet es vier Euro.“ Hier nur etwas um die zehn Cent.
Der Abend schreitet voran und wir unterhalten uns über dies und das. Mal bin ich aktiver im Gespräch, mal überlass ich es den anderen und höre nur zu. Für ihn scheint es kein Problem darzustellen, eigentlich Physiker zu sein und dann einfach nach Vietnam zu gehen, um hier ein freies Haus für Kunst aufzubauen. Brillanz findet wohl immer genug Geld. Wir kommen auf die Zensur zu sprechen und er meint: „Die ist gar nicht so schlimm. Viele Künstler sind nur aus Mode politisch. Es ist cool, zensiert zu werden und es ist cool als Künstler im Gefängnis gewesen zu sein.“ Die Ansicht steht wohl allem entgegen, was wir bisher gehört haben, aber erscheint plausibel. Wie in jedem Land wird es hier wohl auch die Idealisten geben und jene, die nur mitschwimmen.
Mittlerweile sitzen wir auf kleinen Plastikhockern vor einer Straßenküche, in der frisches Bier verkauft wird. Die Straße ist ruhig. Am Nebentisch sitzen einige ältere Herren und Rauchen ihre große Rohrpfeife und ich will gar nicht genauer wissen, was sie da rauchen.
In Vietnam geht man allgemein früh ins Bett und steht dafür auch früh auf. Deshalb weist der Besitzer durch intensiver werdende Putzarbeiten bald darauf hin, dass er jetzt schließen möchte. Wir stehen also auf der Straße und beginnen langsam, uns zu verabschieden. Der Einblick in die Hanoier Kunstszene hat uns allen gefallen und er merkt wohl, das wir gern mehr hätten. Also lädt er uns zu einer Vernissage am nächsten Abend etwas außerhalb Hanois ein. Wir sagen gerne zu, verabschieden uns und fahren in einem Taxi Richtung Hotel. Wer jenseits der Touristenregion ein Taxi will, bezahlt auch deutlich weniger. Wahrscheinlich denken sich die Fahrer: „Wer hier landet, kann nicht ganz ohne Ahnung sein.“ Glück für uns die wir schon den nächsten Abend erwarten.
Jens erhält zwar die Email mit der Wegbeschreibung, kann aber leider nicht mitkommen. Stattdessen kommen Deborah und Lotta dazu. Der Erzähler nähert sich also dem Ende der Rückblende und der Kreis schließt sich.
Zurück in der Vorstadt, zwischen Fluss und Feld, finden wir schließlich die richtige Nummer und betreten das Grundstück. Wir hören Musik und Lachen und sofort fühle ich mich wieder wohl. Vor uns steht ein vietnamesischen Pfahlhaus, davor einige Sofas und Stühle auf denen andere Gäste sitzen und erzählen. Eine junge Frau kommt auf uns zu und begrüßt uns, zum Glück in Englisch. Wir sagen, wer uns eingeladen hat und alles ist in Ordnung. Einige bekannte Gesichter erkenne ich sofort. Da ist der Künstler der gestrigen Ausstellung, da ein Amerikaner, der auch gestern schon rauchend vor der Installation stand. Wir werden freundlich zum Sitzen aufgefordert, etwas zu Trinken wird angeboten und wir sagen gerne ja. Dann zwingt sich uns doch eine Frage auf: Wo ist die Ausstellung?
Nach einem Rundgang sehen wir: Das ganze Grundstück ist eine Installation. Überall gibt es etwas zu entdecken: Der zerbrochene Spiegel mit dem Vogelkäfig zwischen den Pfählen, die dünne Linie aus Stoff im Obergeschoss, oder der an den Boden geschmolzene Stuhl. Ich nehme meine Kamera und mache Bilder. Bin ganz eingenommen von dieser Atmosphäre, die so viel Ruhe in mir hervorruft. Ich denke an Deutschland. An gemütliche Abende mit Freunden. Irgendwann will ich mir durch das Fotografieren den Zugang nicht verbauen und geselle mich zur Runde. Wir haben eine deutsche Praktikantin gefunden, die deutlich erkennen lässt, dass wir für sie wenig interessant sind. Schließlich unterhalte ich mich mit einem jungen Vietnamesen. Unter seiner Mütze sieht man kaum die kurzen Haare. Das Gesicht ist rund, die Augen blicken freundlich. Ich erzähle ihm von meinem Empfindungen. Wie schwierig es ist, hinter diese Fassade blicken zu können, wie schwer es mir fällt einen Zugang zu finden. Zu meiner Überraschung ist er vollkommen meiner Ansicht und ich erfahre, dass er selbst nicht weiß, was seine Freundin denkt! Geschieden ist er schon. Ich beginne zu begreifen, dass es unmöglich ist, in zwei Wochen über dieses Land zu schreiben und dabei eine Tiefe zu erreichen, wenn selbst Vietnamesen dieser Tiefe nachtrauern, weil sie bei ihren Mitmenschen an der Oberfläche bleiben. Ich habe also keine Wahl, als über mich selbst zu schreiben. Über die Erfahrungen, die ich mache und die Empfindungen, die dieses Land in mir hervorruft und zu hoffen, damit Interesse wecken zu können oder Erkenntnisse zu bieten. Das Gespräch in diesem Kreis ist geprägt von ein seltsamen Offenheit. Es ist wahrscheinlich einfach ein Wesenszug jeder Intellektuellenszene, dass sie in gemeinschaftlicher Stille ihren Alltag teilen. Dass sie mit einem Lächeln über das Reden, was ihnen wehtut.
Leider geht uns die Zeit aus. Am nächsten Tag müssen wir früh raus, mit dem Bus zum Cuc Phuong Nationalpark. Während die anderen ihre Roller besteigen und zu einer Party ins Zentrum fahren, bestellen wir uns also ein Taxi. Das erste Unternehmen lehnt erst einmal ab, da dieses Pfahlhaus außerhalb seiner Tarifzone liegt. Beim zweiten kommt dann zwar ein Taxi, allerdings bezahlen wir fast dreimal so viel, wie auf der Hinfahrt. Allerdings war es diese Reise zum Ende der Welt auch wert. Den nächsten Tag im Bus verbringe ich musikhörend, irgendwie abwesend, aber glücklich. Dieser Einblick, dieses kurze Schnuppern an der Kunstszene wird für den Rest der Reise meine Gedanken in Bewegung halten. Bis zu diesem Moment, da aus Erinnerungen Worte werden.